Am 10. August 2025

gott sw

 
Es gibt Menschen, die an Gott glauben. Es gibt Menschen, die nicht an Gott glauben, Atheisten. Der Philosoph Ludwig Feuerbach sagt: Der Mensch schuf Gott nach seinem Bild. Menschen erleben sich als unvollkommen, ohnmächtig, sterblich. Daraus schließen sie: Es muss ein Wesen geben, das nicht unvollkommen ist, sondern vollkommen, allmächtig, allwissend, ewig, Gott. Dieser Gott ist also von Menschen erdacht. Er lebt nur in ihrer Phantasie. Er existiert nicht wirklich. Das Argument überzeugt auf den ersten Blick. Beim zweiten Hinsehen büßt es an Brillanz ein. Feuerbach erklärt, wie Bilder von Gott entstehen, Gottesbilder im Denken der Menschen, in ihrem Kopf. Ob Gott tatsächlich existiert, unabhängig von diesen Bildern, darüber sagt dieses Argument nichts. Karl Marx greift das Argument von Feuerbach auf. Er erweitert es in seiner gesellschaftspolitischen Dimension. Für Marx ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen. Zwei Klassen kämpfen gegeneinander. Die oben, die Reichen, die Mächtigen, gegen die unten, die Armen, die Ausgebeuteten. Im Mittelalter sind oben die Feudalherren, die Adligen, unten die Leibeigenen, die Bauern. In der Neuzeit sind oben die Unternehmer, die Fabrikbesitzer, die Kapitalisten; unten sind die Arbeiter; sie besitzen nur ihre Arbeitskraft. Die verkaufen sie gegen Lohn. Sie leiden unter unmenschlichen Lebensbedingungen. Verbessert werden kann ihre Lage nur durch eine gewaltsame Revolution, Klassenkampf. Die Reichen werden enteignet. Alles gehört dann allen gemeinsam. Damit genau das nicht passiert, kommt jetzt die Religion ins Spiel. Sie funktioniert in diesem System wie ein Betäubungsmittel. Durch Religion werden die armen und ausgebeuteten Arbeiter ruhiggestellt. Ja, es geht euch schlecht, hier in dieser Welt. Aber das ist nicht schlimm, denn nach diesem Leben hier im Jammertal kommt ja das ewige Leben. Da wird es euch gut gehen. Da werdet ihr belohnt. Hier in dieser Welt bleibt alles so, wie es ist, die Reichen oben, die Armen unten. Die Armen werden vertröstet, betäubt, ruhiggestellt, durch eine Droge, durch Religion. Religion ist das Opium des Volkes, sagt Karl Marx. Religion wird von den ungerechten materiellen Verhältnissen erzeugt. Sie ist der geistige Überbau einer ungerechten materiellen Basis. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Religion ist das Opium des Volkes, sagt Karl Marx. Hat er Recht? Zum Teil. Religion wurde und wird eingesetzt, um Menschen, die Unrecht leiden, zu betäuben, sie ruhigzustellen, damit sie nicht für ihre Rechte kämpfen. Es gibt aber auch das Gegenteil. Vor 500 Jahren, 1525, kämpften die Bauern um mehr Rechte, gegen ihre Herren, im Bauernkrieg. Dabei spielte die Religion eine wichtige Rolle. Es war Reformationszeit. Es ging um die Freiheit eines Christenmenschen. Ein Anführer der Aufständischen war ein bedeutender Theologe: Thomas Müntzer. Gott, heilger Schöpfer aller Stern, erleucht uns, die wir sind so fern. Dieses Lied singen wir gerne im Advent. Der lateinische Text ist aus dem 10. Jahrhundert. Ins Deutsche übersetzt hat ihn Thomas Müntzer. Gott, heilger Schöpfer aller Stern, erleucht uns, die wir sind so fern. Religion motiviert, für die eigenen Rechte zu kämpfen. Ein zweites Beispiel: 1990 fiel in Europa der Eiserne Vorhang. Die sozialistischen Diktaturen in Osteuropa brachen zusammen. Begonnen hatte alles in den 1980er Jahren in Polen. Eine freie Gewerkschaft wurde gegründet, Solidarnosc, unterstützt von der katholischen Kirche und von Papst Johannes Paul II. 1990 kam die deutsche Einheit. Die Mauer in Berlin fiel. Begonnen hatte alles im Herbst 1989. Demonstranten zogen durch die Straßen, friedlich, mit Kerzen in den Händen. Vorher trafen sie sich in den Kirchen zum Friedensgebet. Religion hat sie nicht ruhiggestellt und betäubt. Im Gegenteil, Religion hat sie motiviert und gestärkt. Religion wirkte hier nicht wie das Opium des Volkes, sondern eher wie ein Energy-Drink. Religion verleiht Flügel. Glaube ist: Feststehen in dem, was man erhofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht. So steht es im Hebräerbrief. In der Lesung haben wir diese Stelle gehört. Glauben ist: Feststehen in dem, was man erhofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht. Die Menschen, in Polen, in Ostdeutschland, im Herbst 1989. Sie standen fest in dem, was sie erhofften. Sie standen fest zusammen. Sie waren überzeugt von Dingen, die sie nicht sehen konnten, noch nicht. Schon bald wurden diese unsichtbaren Dinge sichtbare Wirklichkeit, Einheit und Freiheit, nicht nur für Christenmenschen, sondern für alle. Sie hatten den Mut und die Kraft, an das zu glauben, was sie erhofften. Wir sagen es in unserem Jahresthema: Denkt weiter und vertraut auf das Evangelium.

Pfarrer Dr. Bernhard Lackner 

Bildnachweis
  • Nikolaikirche in Leipzig, Quellort der friedlichen Revolution 1989.
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  • Grab des seeligen Priesters Jerzy Popiełuszko, †1984 als Märtyrer der Solidarnoscbewegung.
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  • Statue des Reformators Thomas Müntzer, Kämpfer und Märtyrer für soziale Gerechtigkeit.
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